
Mikrobologie in kleinen Häppchen
Ein Gift, sie zu töten
Diese Geschichte ereignete sich im Südosten der Vereinigten Staaten, aber sie könnte auch in vielen anderen Teilen der Welt passieren. An diesem Schauplatz befiel eine mysteriöse Krankheit Raubvögel und Wasservögel in der Nähe von künstlich geschaffenen Gewässern. Die Vögel begannen an Gewicht zu verlieren. Sie stürzten zu Boden und prallten, ihrer Koordinationsfähigkeit beraubt, gegen Gegenstände. Vakuoläre Myelinopathie (VM), die neurologische Krankheit, an der sie litten führte zu ihrem Tod. Der Erreger dieser Krankheit: das CyanobakteriumAetokthonos hydrillicola.
Aber wie konnte ein Cyanobakterium Greifvögel töten?
Ein kleiner historischer Exkurs
Die Epidemie begann Mitte der 90er Jahre, als eine große Zahl an Todesfällen unter Weißkopfseeadlern beobachtet wurde. Aber nicht nur Greifvögel, sondern auch Wasservögel wie Blässhühner, Ringschnabelenten, Stockenten und Kanadagänse waren betroffen. Diese Todesfälle hatten eines gemeinsam: Sie ereigneten sich in der Nähe von durch Menschen geschaffenen Gewässern (Freizeitseen, Stauseen, landwirtschaftlichen Teichen usw.). In all diesen Gewässern fand Susan B. Wilde [1] eine exotische Wasserpflanze, Hydrilla verticillata, auf der ein Bakterium lauerte!
Abbildung 1. Cyanobakterien (in rot) auf einem Blatt von Hydrilla verticillata. Bild unverändert übernommen aus [2].
Abbildung 2. Aetokthonos hydrillicola, der Adlertöter. Bild unverändert übernommen aus [2].
Wilde identifizierte dieses epiphytische (d.h. auf der Oberfläche einer Pflanze lebende) Bakterium als neues Mitglied der Cyanobakterien und gab ihm den Namen Aetokthonos hydrillicola (griechisch: “Adlertöter, der auf Hydrilla lebt”) (Abbildung 1 und 2) [2].
Überraschenderweise verursachte Aetokthonos hydrillicola bei Hühnern keine VM, wenn die Forschenden es unter standard Laborbedingungen kultivierten (Abbildung 3).

Abbildung 3. Im Labor kultivierte A. hydrillicola kann bei Hühnern keine VM verursachen. Abbildung mit Biorender erstellt.
Wie dieser winzige Organismus den großen bösen Raubvogel bezwingen kann
Cyanobakterien sind ein Stamm von Bakterien, die Sonnenlicht durch Photosynthese als Energiequelle nutzen können. Leider sind Cyanobakterien oft in der Lage, neben Energie auch eine Vielzahl an Giftstoffen herzustellen. Das Team um Steffen Breinlinger [3] stellte die Hypothese auf, dass A. hydrillicola nur unter bestimmten Bedingungen Toxine produziert (Abbildung 4). Um diese Hypothese zu überprüfen, sammelten die Forschenden Proben von H. verticillata Pflanzen mit A. hydrillicola an Wasserstellen, an denen Fälle von vakuolärer Myelinopathie (VM) aufgetreten waren. Sie führten ein Massenspektrometrisches-Experiment (AP-MALDI-MSI) durch, welches es ermöglicht, Verbindungen (z.B. Toxine und andere Stoffwechselprodukte) nachzuweisen, die für Cyanobakterien typisch sind.

Abbildung 4. Hypothese: A. hydrillicola kann sein Toxin nur in der natürlichen Umgebung produzieren. Abbildung mit Biorender erstellt.
Interessanterweise wurde in den Umweltproben ein unbekanntes Stoffwechselprodukt gefunden, welches in Laborkulturen nicht nachweisbar war (Abbildung 5).

Abbildung 5. Die AETX-Struktur mit fünf Bromatomen (Br). Abbildung mit Chemwriter erstellt.
Diese neuartige natürliche Verbindung scheint fünf Bromatome zu enthalten. Bemerkenswert ist, dass das Kulturmedium im Labor kein Brom enthielt. Die Forschenden stellten deshalb die Hypothese auf, dass der Mangel an Brom dazu beitrug, dass die Laborversion von A. hydrillicola keine Toxine synthetisieren konnte. Um dies zu überprüfen, fügten die Forschenden dem Labor-Kulturmedium Kaliumbromid hinzu. Spannung! Die Zugabe führte tatsächlich zur Biosynthese des Toxins! (Abbildung 6)
Abbildung 6. Links: A. hydrillicola kann unter Laborbedingungen kein Toxin synthetisieren. Rechts: Durch die Zugabe von Kaliumbromid zum Labor-Kulturmedium kann A. hydrillicola das Toxin synthetisieren. Abbildung mit Biorender erstellt.
Nun stellte sich jedoch eine neue Frage: Woher kam das Bromid? Das Team um Breinlinger stellte fest, dass die Wasserpflanzen H. verticillata in den künstlich angelegten Gewässern einen höheren Bromgehalt aufwiesen als im Sediment (20-fach höher) und im Wasser (500- bis 1000-fach höher). Im Spätherbst, wenn sich die Blätter von H. verticillata verfärben, abfallen und vollständig abgebaut werden, wird Brom in die Umwelt freigesetzt, wo es von A. hydrillicola zur Synthese des Toxins verwendet werden kann.
Ein Gift, das nicht nur Adler tötet
Die Forschenden nannten das entdeckte Toxin Aetokthonotoxin (AETX), was auf Griechisch “Gift, das den Adler tötet” bedeutet. In zwei verschiedenen aus den Gewässern isolierten A. hydrillicola Stämmen, fanden sie eine spezifische Gruppe an Genen. Dieses sogenannte Gen-Cluster (aet A bis F) ist in anderen Bakterienarten nicht vorhanden, sondern scheint spezifisch für A. hydrillicola zu sein und spielt wahrscheinlich eine Rolle bei der Synthese des Toxins (Abbildung 7).

Abbildung 7. In A. hydrillicola gefundenes Gen-Cluster. Die Pfeile stellen Gene dar. Ein Gen-Cluster ist eine Gruppe von Genen, die für Proteine kodieren, die eine gemeinsame Funktion ausüben (z. B. die Synthese von Toxinen).
Die Tryptophanase (AetE) könnte hierbei Tryptophan (eine Aminosäure) zu Indol umwandeln, während die beiden Halogenasen (AetA und F) zur Bromierung (Einführung von Bromionen) des Toxins dienen könnten. Um diese Hypothese zu testen, mischten die Forschenden AetF mit Tryptophan. Das Experiment ergab tatsächlich eine Anlagerung von zwei Bromatomen an Tryptophan (Abbildung 8). AetF arbeitet somit mit den anderen Aet-Proteinen zusammen, um das AETX-Toxin herzustellen.

Abbildung 8. Schritte der Bromierung von Tryptophan (links) durch AetF. Das Enzym fügt zunächst ein Bromatom (Mitte) und anschließend ein zweites Bromatom hinzu (rechts). Abbildung mit Chemwriter erstellt.
AetF works together with the other Aet proteins to make the AETX toxin.
In einem weiteren Versuch isolierten die Autoren der Studie das Toxin und testeten es an verschiedenen Modellorganismen, um so die tödliche Dosis für 50 % der Population (LC50) zu ermitteln. Für den Fadenwurm Caenorhabditis elegans liegt diese bei 40 nM (Nanomol pro Liter), für die Larve des Zebrafischs Danio rerio bei 275 nM. Zum Vergleich: Ein Stück Zucker, in einem Glas Wasser aufgelöst, hat eine Konzentration von etwa 300 000 000 nM. Bei subletalen (d.h. nicht tödlichen) Konzentrationen beobachtete man bei Zebrafischen neurologische Verhaltensweisen wie Gleichgewichtsstörungen, die denen der betroffenen Raubvögel entsprachen!
Das letzte Experiment von Breinlinger und seinem Team war der Versuch an Vögeln. Hierfür wurden Hühner mit einer Lösung von reinem AETX (Abbildung 9, links), mit einem AETX Extrakt aus giftigem H. verticillata und A. hydrillicola (Abbildung 9, Mitte) oder mit der reinen Trägerlösung, ohne Wirkstoff, (Abbildung 9, rechts) gefüttert. Bei allen Hühnern wurden keine klinischen Krankheitszeichen festgestellt. Allerdings wurden in der weißen Hirnsubstanz von Hühnern, die AETX zu sich genommen hatten, ausgedehnte Vakuolen (mit Flüssigkeit gefüllte Kammern) beobachtet. Dies bestätigte, dass AETX der Verursacher von VM ist.

Die erschreckende Schlussfolgerung
Das Toxin AETX, das von Cyanobakterien hergestellt wird, die auf exotischen Pflanzen in künstlich angelegten Gewässern leben, kann auf die gesamte Nahrungskette übertragen werden – von pflanzenfressenden Wasservögeln bis hin zu Raubvögeln. Die AETX-herstellenden Bakterien benötigen hierfür Bromid, das geologischen oder anthropogenen Ursprungs sein kann, wie z. B. aus Herbiziden, die ironischerweise zum Abtöten von Wasserpflanzen verwendet werden.
Dies führt einmal mehr vor Augen, dass alle lebenden Organismen miteinander und mit der Umwelt verbunden sind und dass die Einwirkung auf einen Bestadteil dieses Netzwerks sich auf alle anderen auswirken kann (Abbildung 10).

Abbildung 10. Das Toxin der Cyanobakterien könnte alle lebenden Organismen in der Nahrungskette, einschließlich des Menschen, beeinträchtigen. Die Pflanze (rechts) ist H. verticillata, die Bakterien auf den Blättern sind A. hydrillicola, das Molekül ist das Toxin AETX.
Ein Gift sie zu töten,
Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden
Im Lande Erde, wo die Schatten drohn.
Link zum Originalbeitrag:
- Avian Vacuolar Myelinopathy Linked to Exotic Aquatic Plants and a Novel Cyanobacterial Species. Wilde, S. B., Murphy, T. M., Hope, C. P., Habrun, S. K., Kempton, J., Birrenkott, A., Lewitus, A. J. Environ. Toxicol. (2005). doi: 10.1002/tox.20111.
- Aetokthonos hydrillicola gen. et sp. nov.: Epiphytic cyanobacteria on invasive aquatic plants implicated in Avian Vacuolar Myelinopathy. Phytotaxa (2014) Doi: 10.11646/phytotaxa.181.5.1
- Hunting the eagle killer: A cyanobacterial neurotoxin causes vacuolar myelinopathy. Breinlinger, Steffen, Tabitha J. Phillips, Brigette N. Haram, Jan Mareš, José A. Martínez Yerena, Pavel Hrouzek, Roman Sobotka et al. Science (2021) Doi: 10.1126/science.aax9050
Titelbild: Source Pen Waggener CC By 2.0 license
Übersetzt von Mihaela Bozukova