
Mikrobologie in kleinen Häppchen
Intelligenter Schleim – Gedächtnis ohne Nervensystem.
Schleimpilze sind faszinierend. Ursprünglich wurden sie als Pilze eingestuft (daher der Name), später aber in das Reich der Protisten eingeordnet. Ein Protist ist ein eukaryotischer Organismus (die Zellen enthalten also einen Zellkern), der weder ein Tier, eine Pflanze noch ein Pilz ist. Schleimpilze sind einzigartig: Sie befinden sich an der Schnittstelle zwischen dem Pflanzen-, Tier- und Pilzreich und geben uns einen Einblick in die frühe Evolutionsgeschichte der Eukaryoten.

Der Schleimpilz Physarum polycephalum (oder “der vielköpfige Schleim”, auch bekannt als “Der Blob“) wurde im Labor eingehend untersucht. Sein Körper ist eine einzige große Zelle, die aus “Röhren” besteht, die ein kompliziertes Netzwerk bilden, das sich über Zentimeter oder sogar Meter erstrecken kann! Man findet ihn in feuchten, schattigen Lebensräumen wie Waldböden oder (toter) Baumrinde. Aber P. polycephalum erregt noch aus einem anderen Grund Interesse. Er scheint in der Lage zu sein, sich Informationen über das Nahrungsangebot zu merken; eine Eigenschaft, die im Allgemeinen mit Organismen mit einem Nervensystem (Kognition) in Verbindung gebracht wird. Außerdem kann der Blob den kürzesten Weg in einem Labyrinth finden, indem er seinen Röhrenkörper ständig neu anordnet. Kürzlich wurde er sogar in den Weltraum geschickt, um zu untersuchen, wie die Mikrogravitation sein Verhalten beeinflusst.
Normalerweise können Arten ohne Nervensystem eine Art rudimentäres Gedächtnis mit alternativen Strategien erzeugen, darunter Epigenetik, Zellgedächtnis durch Chemotaxis und Adaption des zirkadianen Rythmus (können Bakterien die Zeit bestimmen? Lies mehr darüber in diesem Artikel (Englisch)). Diese Vorgänge dauern mindestens eine halbe Stunde, wenn nicht sogar einen ganzen Tag, so dass nur “langsame Entscheidungen” möglich sind. Um komplexe Probleme zu lösen, scheint P. polycephalum jedoch Entscheidungen innerhalb von 10-20 Minuten zu treffen, was auf eine bisher unbekannte alternative Strategie hindeutet.
In einer aktuellen Studie untersuchten Mirna Kramar und Karen Alim, wie der Schleimpilz dies bewerkstelligt. Sie untersuchten insbesondere, wie der Standort einer Nährstoffquelle in der Morphologie des Netzwerks kodiert wird. Sie brachten eine Nährstoffquelle in die Nähe des Blobs und beobachteten, dass sich die Röhren, die der Nahrung am nächsten waren, ausdehnten und die Röhren, die am weitesten von der Nahrung entfernt waren, zu schrumpfen schienen. Dies führte dazu, dass sich der Schleimpilz zu Gunsten der Nahrung umorganisierte und in Richtung der Nahrungsquelle wandern konnte. Aber was ist der zugrunde liegende Mechanismus für dieses Verhalten?

Das Forschungsteam fand heraus, dass die Geschwindigkeit der Röhrenausdehnung der Geschwindigkeit der durch das Röhrennetz fließenden Partikel entsprach: 15 Mikrometer pro Sekunde, das sind 5,4 Zentimeter pro Stunde (zum Vergleich: eine durchschnittliche Schnecke kann 4800 cm/h zurücklegen). Die Forscher stellten die Hypothese auf, dass es ein chemisches Signal geben muss, welches das Netzwerk wie eine Autobahn nutzt. Und tatsächlich fanden sie heraus, dass, sobald der Blob mit einer Nahrungsquelle in Berührung kam, ein chemischer Wirkstoff im Zytoplasma (dem Inneren der Schleimröhren) freigesetzt wurde, der die Röhrenwand aufweichte und die Ausweitung der Röhren auslöste. Dieser Effekt breitete sich im gesamten Netzwerk aus, da die Chemikalie durch die zytoplasmatischen Ströme durch das Netzwerk transportiert wurde.
Da die Erweiterung der Röhren dauerhaft ist (zumindest hielt die Erweiterung bis zum Ende des Experiments an), werden frühere Nahrungsquellen im Netzwerk durch Bereiche mit größeren Röhren “kodiert”. Und je näher an der Nahrungsquelle, desto größer die Röhren (mehr Chemikalien verfügbar). Das Gesamtvolumen des Schleimpilzes ändert sich nicht, d. h. wenn sich Teile des Netzes ausdehnen, müssen andere Teile schrumpfen. Dies konnten die Forscherinnen in ihren Experimenten ebenfalls beobachten. Wenn eine Nahrungsquelle in größerer Entfernung vom Röhrennetz eingeführt wurde, orientierte sich der Schleimpilz neu, indem er die Röhren in der Nähe der neuen Nährstoffe ausdehnte und das alte Röhrensystem schrumpfte. So wird die alte “Erinnerung” an die vorherige Nahrungsquelle nun von der neuen Nahrungsquelle überschrieben.

Biorender.
Die Forscherinnen erstellten ein mathematisches Modell, um die Erkennung und Reaktion des Schleimpilzes auf eine potenzielle Nahrungsquelle zu simulieren, und verglichen es mit den experimentellen Daten. Die Vorhersagen entsprachen in hohem Maße dem, was sie in den Experimenten sahen.
Die Forschungsergebnisse geben nicht nur Aufschluss über die Problemlösungsfähigkeiten von P. polycephalum, sondern könnten auch bei der Weiterentwicklung der Produktion von “intelligenten Materialien” oder “weichen Robotern” helfen. Diese Roboter können beispielsweise ihre Morphologie an unstrukturierte Umgebungen anpassen und/oder zerbrechliche Gegenstände tragen und berühren, da sie über flexible Komponenten verfügen. Dies macht sie nützlich für Anwendungen im Bereich der Rettung und der menschlichen Interaktion, z. B. in der Altenpflege und der Prothetik. Mit Hilfe von Modellen und Theorien, die auf den relativ einfachen Mechanismen von P. polycephalum beruhen, könnten diesen Materialien neue Eigenschaften verliehen werden, z. B. die Fähigkeit, mit der Umwelt zu interagieren und auf Umweltreize zu reagieren.
Link zum Originalbeitrag:: Mirna Kramar, Karen Alim (2021), Encoding memory in tube diameter hierarchy of living flow network, Proceedings of the National Academy of Sciences, 118 (10) e2007815118; DOI: 10.1073/pnas.2007815118
Titelbild: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Physarum_polycephalum_plasmodium.jpg
Übersetzt von Florian Theßeling