
Mikrobologie in kleinen Häppchen
Eigen Fleisch und Blut.
Stell dir folgendes Gedankenexperiment vor: Wir isolieren Menschen aus 100 verschiedenen Familien für fast drei Jahre und geben ihnen überhaupt keine Nahrung. Klingt doch nach einer Menge Spaß, oder? William Shoemaker und seine Kollegen haben genau das gemacht…naja, fast, sie haben es mit Bakterien, statt mit Menschen, gemacht.
Vielleicht hast du in deiner Küche, deinem Bad oder deinem Garten schon einmal festgestellt, dass Mikroorganismen praktisch überall überleben können. Ihre winzige Größe hindert sie nicht daran, sich rücksichtslos das zu holen, was sie wollen. Diejenigen, die unseren Blog öfter lesen, haben vielleicht schon gesehen, dass E. coli seine eigenen Toten frisst. Aber gibt es noch mehr Bakterien, die das tun?

Von 21 untersuchten Bakterienspezies fand Shoemaker nur eine Spezies, die zivilisiert genug war, einfach zu sterben, anstatt sich von den Toten zu ernähren. Der Rest? Nun, der wollte einfach nicht aufgeben! Kann man es ihnen verdenken? Nach dem anfänglichen Ableben vieler einzelner Zellen zeigten die überlebenden Zellen eine bemerkenswerte Erholung (Abbildung 2). Die Autoren stellten sogar eine Korrelation zwischen der Menge der abgestorbenen Zellen und der Geschwindigkeit des sich stabilisierenden Zellwachstums her. Natürlich fanden die Forscher in den Proben der Bakterienkulturen nur noch Spuren der Verstorbenen – die Proteine, Nukleinsäuren und Membranmaterialien waren alle aufgegessen.

Aus physikalischen Gründen gibt ein unvermeidliches Ende allen Lebens. Denn die Thermodynamik gibt vor, dass die Energie, die zur Erzeugung einer neuen Zelle benötigt wird, immer höher als die ist, die man durch den Verzehr einer alten Zelle gewinnt. Wie lange kann eine bakterielle Kultur also ohne Nahrung überleben? Um der thermodynamischen Herausforderung zu begegnen, verlangsamen die Bakterienarten ihren Stoffwechsel. Dies lässt sich an der Verdopplungszeit ablesen: Während die untersuchten Bakterien normalerweise einige Stunden brauchen, um sich zu teilen, brauchten sie bei diesem Hungerexperiment 2-3 Monate. Aufgrund des verlangsamten Stoffwechsels wurden die einzelnen Bakterien sehr alt, nämlich bis zu 100 Tage (zum Vergleich: Deine eigenen Hautzellen leben nur etwa eine Woche). Aufgrund des langsamen Stoffwechsels und der langen Lebenserwartung sagte Shoemaker voraus, dass das Aussterben der von ihm getesteten Bakterienkulturen (je nach Art) 100 bis 100.000 Jahre dauern würde!

Schließlich zeigten die Forscher, dass am Ende der Hungerzeit Mutationen in bestimmten Regionen des bakteriellen Genoms zu finden sind. Bei allen untersuchten Arten wurden diese häufig in Genen gefunden, die für die Biosynthese der Aminosäure Lysin und des DNA-Bausteins Pyrimidin verwendet werden. Auch mutierte Gene für Transporterproteine für die Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin wurden häufig gefunden. Diese Proteine scheinen unabhängig von der Bakterienart eine Rolle beim Hungertod zu spielen, aber bis jetzt weiß noch niemand welche Rolle genau
Trotz einer gewissen genetischen Anpassung an die von Shoemaker et al. geschaffenen grausamen Bedingungen bleibt die erschreckende Wahrheit: Die meisten Bakterien sind gnadenlose Überlebenskünstler. Ihre Kulturen werden die meisten Menschen überleben – denn Kannibalismus ist bei unseren mikroskopisch kleinen Freunden nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Link zum Originalartikel: William R. Shoemaker, Stuart E. Jones, Mario E. Muscarella, Megan G. Behringer, Brent K. Lehmkuhl, and Jay T. Lennon, Microbial population dynamics and evolutionary outcomes under extreme energy limitation, PNAS, August 2021
Titelbild: https://www.abcteach.com/documents/clip-art-cauldron-bw-i-abcteachcom-33853 bearbeitet mit Biorender
Übersetzt von Florian Theßeling