Minimalismus in der mikrobiellen Welt

                              

Mikrobologie in kleinen Häppchen

Minimalismus in der mikrobiellen Welt

In der heutigen Konsumgesellschaft wird häufig über Minimalismus diskutiert – ein Lebensstil, bei dem der Mensch nur das konsumiert und sich einzig an dem erfreut, was er wirklich benötigt, und den Überfluss hinter sich lässt.

Minimalismus und Bakterien

In den natürlich vorkommenden, mikrobiellen Gemeinschaften begegnet uns der Minimalismus nicht so häufig. Genome von Mikroben sind eine Anhäufung von Genen, deren Funktionen uns noch immer weitgehend unbekannt sind. Aufgrund der Vielseitigkeit dieser Gene können Mikroben sie sowohl unter normalen als auch unter ungünstigen Bedingungen nutzen. Seit Jahren versucht die Forschung, minimalistische Versionen von Mikroben zu schaffen und diese so weiterzuentwickeln, damit sie nützliche Bioprodukte produzieren. Durch das Entfernen unwichtiger Gene und durch das Beibehalten einzig der essenziellen Gene können Wissenschaftler*innen Mikroben für spezifische Anwendungen generieren, beispielsweise für Bioremediation (auch biologische Sanierung genannt), Produktion von Biokraftstoff, Biokonservierung von Nahrungsmitteln, und sogar für die Impfstoffentwicklung. Und zugleich ist alles in einem stetigen, intrinsischen Fluss der Weiterentwicklung. Das gilt schließlich auch für den Menschen, der sich mittlerweile vom Spezialisten für die simple Schreibmaschine zum intensiven Nutzer vieler extravaganter und hochtechnischer Geräte gewandelt hat. Aber Spaß beiseite: Der Mensch eignete sich nach und nach Eigenschaften an, die ihm halfen, über lange Zeit in den unterschiedlichsten Umgebungen zu leben und zu überleben. In ganz ähnlicher Weise evolvieren auch Bakterien, jedoch viel schneller als Menschen. Zumindest erscheint uns dies so, da die bakterielle Lebensspanne um einiges kürzer ist als die menschliche.

Eine Frage, die viele Wissenschaftler*innen beschäftigt, ist, wie sich eine minimalistische Zelle im Laufe der Zeit entwickelt. Die Evolution von Mikroben mit einem nicht-minimalen Genom ist angesichts der gewaltigen Menge an Genen schwer zu erforschen. Im Gegensatz dazu lässt sich die Evolution von Mikroben mit minimalem Genom relativ leicht untersuchen. Denn bei weniger Genen lässt sich besser feststellen, welche die Evolution vorantreiben. Letztlich ist es auf der Anwendungsebene aber wichtig, die Entwicklung aller Mikroben zu verstehen, ob sie nun minimal sind oder nicht. In unserem Alltag nutzen wir verschiedene mikrobielle Produkte wie Käse, Probiotika, und Impfstoffe, um nur einige davon zu nennen. Selbst unter scheinbar unveränderten Bedingungen entwickeln sich alle Mikroben weiter, einschließlich derjenigen, die in den von uns konsumierten Produkten enthalten sind. Wir müssen daher diese Veränderungen verstehen, um potenzielle Gesundheitsrisiken, aber auch Vorteile einschätzen zu können. Dieses Verständnis kann genutzt werden, um das mikrobielle Verhalten sowohl unter stabilen als auch ungünstigen Bedingungen prognostizieren zu können, beispielsweise in Konkurrenz mit anderen Mikroben, oder bei Hitze, Temperatur-, und pH-Veränderungen. 

In einer kürzlich veröffentlichten Studie untersuchte eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Evolution minimalistischer Bakterienzellen der Gattung Mycoplasma mycoides (M. mycoides), die im Vergleich zu ihrer nicht-minimalen Version (901 Gene) nur noch aus 493 Genen bestanden. Aus dem Minimalgenom waren auch Gene entfernt worden, die für die Genauigkeit der Replikation, das heißt der Vervielfältigung des Genoms der Bakterien, essenziell sind. Solche Gene sind für alle Organismen von entscheidender Bedeutung, da sie Fehler bei jeder Replikationsrunde erkennen und korrigieren. Damit tragen sie zur allgemeinen Stabilität des Genoms bei. Die Studie kam zu mehreren Ergebnissen, von denen zwei in diesem Text besprochen werden sollen:

  1. Das Fitness-Spektrum ist bei Minimalzellen weder linear noch progressiv.
  2. Das minimale Genom hat eine vergleichbare Mutationsrate zu komplexen Genomen.

Um die beiden oben genannten Punkte genauer zu erläutern, müssen wir die Existenz eines Bakteriums aus der Perspektive von Leben, Gesundheit, und Tod betrachten.

Was bedeutet es für ein Bakterium, „fit“ zu sein?

Fitness ist in der Welt der Bakterien ein anderes Konzept als das, welches wir gemeinhin kennen. Für uns Menschen bedeutet Fitness, dass wir uns um unsere Gesundheit kümmern und aktiv sind. Eine wichtige Rolle spielt auch die Fähigkeit unseres Körpers, Nährstoffe wie Kohlenhydrate, Proteine, und Fette optimal zu verarbeiten. Bei Bakterien bezieht sich das Wort „Fitness“ nicht nur auf die effektive Verwertung von Nährstoffen, sondern auch auf ihre Fähigkeit, effizienter zu replizieren, also sich zu vermehren. Die Lebensspanne eines Menschen ist viel länger als die eines Bakteriums. Deshalb lässt sich die bakterielle Vermehrung unter experimentellen Bedingungen leichter beobachten. Das ist auch der Grund, warum man in der Mikrobiologie über die Lebensspanne von Bakterien in „Generationen“ spricht. Eine Woche in der Lebensspanne eines Menschen bedeutet für Bakterien Tausende von Generationen. Die Verfasser*innen der Studie stellten fest, dass die Bakterien, die das veränderte, minimale Genom trugen, zunächst fast fünfzig Prozent ihrer Fitness einbüßten. Nach etwa zweitausend Generationen hatte M. mycoides diese verlorene Fitness jedoch wiedergewonnen, und sie ähnelte sogar derjenigen von M. mycoides mit einem komplexen Genom. Einfach gesagt: Das minimale Genom von M. mycoides ist nicht dem Untergang geweiht. Es kann sogar wieder vergleichbare Leistungen zum nicht-minimalen Genom erbringen, nachdem es eine Art „Fitness-Achterbahnfahrt“ durchlaufen hat.

Das minimale Genom von Mycoplasma mycoides erholte sich nach zweitausend Generationen der Evolution und wies vergleichbare Mutationsraten und Fitness auf wie das ursprüngliche, nicht-minimale Genom. Abbildung von der Autorin in BioRender erstellt. 

Mutationsraten von bakteriellen Genomen

Im Vergleich zu den drei Milliarden Basenpaaren auf den dreiundzwanzig Chromosomen des menschlichen Genoms haben Bakterien eine geringe Genomgröße. Das Genom von M. mycoides beispielsweise hat eine Million Basenpaare auf einem einzigen Chromosom. Die Größe hat jedoch keinen Einfluss auf die Komplexität der Stoffwechselprozesse und der damit verbundenen Proteine, die in diesem Genom kodiert werden. Allerdings wirkt sich die Größe, insbesondere die Verkleinerung des Genoms, im Laufe der Zeit auf die Mutationsrate aus – das ist die Anzahl der Mutationen pro Nukleotid pro Generation (hier ein wenig Literatur zum Vertiefen). Diese Beobachtung gilt jedoch nicht für alle Organismen. In der aktuellen Studie stellten die Wissenschaftler*innen fest, dass die Mutationsrate durch die Verkleinerung des Genoms nicht beeinflusst worden war, obwohl auch Gene fehlten, die für die Genauigkeit der DNA-Replikation benötigt werden. Diese Beobachtung kann auf die von vorneherein hohe Mutationsrate von nicht-minimalen M. mycoides Bakterien zurückgeführt werden, sowie auf die geringe Populationsgröße, die für die Experimente verwendet wurde. Dies stimmt übrigens auch mit der sogenannten „drift-barrier“ Hypothese überein, welche besagt, dass die Mutationsrate einer Population in erster Linie von der Populationsgröße abhängt. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass größere Populationen im Vergleich zu kleineren Populationen geringere Mutationsraten aufweisen. Und genau das haben auch die Verfasser*innen der hier beschriebenen Studie in ihren Experimenten festgestellt.

Was bedeutet das alles nun? Und warum erforschen wir überhaupt ein minimales Bakteriengenom?

Die Antwort auf diese Frage ist knifflig. Die Untersuchung von Minimalgenomen hilft bei der Identifizierung von Genen, die für die Grundfunktionen eines Organismus benötigt werden. Diese Erkenntnisse erweitern unser Wissen über grundlegende und lebensentscheidende, biologische Prozesse. Die Vereinfachung von Systemen erleichtert die Untersuchung einzelner Genfunktionen und Interaktionen. Es ermöglicht die Entwicklung von Organismen, die für bestimmte Zwecke maßgeschneidert werden können, zum Beispiel für die Produktion von Biokraftstoffen, Medikamenten, oder Enzymen, und trägt zur Erforschung potenzieller Angriffspunkte für Medikamente bei. Die Erkenntnisse können auch für die nachfolgende Betrachtung nicht-minimaler Mikroben wertvoll sein. Dies ist beispielsweise angesichts der zunehmenden Interaktionen zwischen Menschen und Mikroben sehr wichtig, sei es im Zusammenhang einer Epidemie, durch Probiotika, oder in landwirtschaftlichen Produkten. Insgesamt bieten solche Studien jedoch nur einen kleinen Einblick in die unzähligen mikrobiellen Phänomene, die noch darauf warten, entdeckt zu werden.


Link to the original post: Moger-Reischer, R.Z., Glass, J.I., Wise, K.S. et al. Evolution of a minimal cell. Nature 620, 122–127 (2023). https://doi.org/10.1038/s41586-023-06288-x

Featured image: Image created by author in Midjourney AI.


übersetzt von: Ann-Kathrin Mehnert