Selbstheilendes „Leder“

                              

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Selbstheilendes „Leder“

Stell dir ein Material vor, das wachsen, sich anpassen, und sich selbst heilen kann, genau wie ein lebender Organismus. Das ist das Ziel eines neuen Forschungsgebiets mit dem Namen „Engineered Living Materials“ (ELMs). ELMs bestehen aus lebenden Zellen, die in einem Labor entwickelt und geformt werden, um neuartige Materialien mit erstaunlichen Eigenschaften zu kreieren. Im Gegensatz zu herkömmlichen Stoffen wie Holz oder Metall können ELMs ihre Umgebung wahrnehmen, auf diese reagieren, und sich sogar selbst reparieren, wenn sie beschädigt werden.

Einige ELMs sind hybride lebende Materialien, die künstliche Stoffe mit lebenden Zellen kombinieren, wobei letztere als intelligente Sensoren oder Aktivatoren fungieren. Einige Wissenschaftler*innen haben beispielsweise einen Weg gefunden, Bakterien zum Schließen von Betonspalten einzusetzen. Die Bakterien werden in den Beton eingebettet und bleiben inaktiv, bis der Beton Risse bekommt. Dann erwachen die Bakterien wieder zum Leben und produzieren eine leimartige Substanz, die den Spalt abdichtet. Auf diese Weise kann sich der Beton ohne menschliches Zutun selbst reparieren.

Aber wäre es auch möglich, ein Material herzustellen, das vollständig lebendig ist und ohne künstliche Bestandteile auskommt? Genau hier kommen die Pilze ins Spiel. Pilze sind erstaunliche Organismen, die beständige, wasserabweisende, und selbstheilende Materialien erzeugen können. Vielleicht hast du sogar schon einige Beispiele dafür gesehen, beispielsweise in Produkten wie Pilz-Leder oder -Möbeln. Außerdem werden Pilze in der Elektronik oder als Klimaanlagen verwendet.

Vor Kurzem hat ein Forschendenteam versucht, ein neuartiges Pilzmaterial zu erschaffen, das sich selbst regenerieren kann. Dafür verwendeten die Forschenden Ganoderma lucidum, einen Pilz, der normalerweise auf verwesenden Laubbäumen zu finden ist und natürliche Selbstheilungskräfte besitzt. Die Forschenden wollten ein Material entwickeln, das für Möbel, Autositze, oder Modeartikel verwendet werden kann und das sich bei Beschädigung selbst repariert.

Wie heilt sich der Pilz selbst?

Damit der Pilz wie Leder aussieht und sich auch so anfühlt, wurde das Myzel (das sind die fadenförmigen Wucherungen eines Pilzes) in Flüssigkeit gezüchtet und anschließend in Containern weiter aufgezogen. Dadurch entsteht eine Art Haut. Um zu testen, ob diese Haut selbstheilend ist, wurde sie getrocknet und anschließend geprüft, ob sie wiederbelebt werden kann. Die Forschenden testeten verschiedene Pilzarten, darunter auch solche, die tatsächlich schon zur Herstellung von Myzelmaterial verwendet werden, wie Ganoderma resinaceum, Trametes versicolor und Pleurotus ostreatus. Fast alle Pilzarten konnten aufgrund ihrer Produktion von Chlamydosporen wiederbelebt werden. Chlamydosporen sind die schützenden Strukturen eines Pilzes, die Überleben und Ausbreitung fördern. Man könnte sie also als widerstandsfähige Samen des Pilzes bezeichnen.

Das in Flüssigkeit gezüchtete Myzel wird vermengt und dann in einem Behältnis weiter gezüchtet. Die Häute werden geerntet, geformt und getrocknet, woraus letztendlich eine Myzelhaut entsteht. Übernommen und adaptiert aus dem Originalartikel 

Wie gut und wie schnell kann sich das Material von einem Schaden erholen?

Nachdem die Forschenden gezeigt hatten, dass die Häute wiederbelebt werden konnten, testeten sie, ob und wie der Heilungsprozess optimiert werden kann. Sie stanzten Löcher in die Haut und wendeten verschiedene Techniken an, um das Loch wieder zu schließen. Die beste Methode bestand schließlich darin, das Myzel in einer nährstoffreichen Flüssigkeit zu tränken oder es auf einen Nährboden zu legen. Selbst Löcher mit einem Durchmesser von bis zu zehn Millimetern konnten auf diese Weise nach zwei Tagen geheilt werden. Und nicht nur das: Wenn das Material in zwei Hälften geteilt wurde, konnten sich die beiden Teile wieder miteinander verbinden; nach vier Tagen gab es keine Anzeichen einer Schädigung mehr.

Kann das Material nach der Regeneration stärker werden?

Die Forschenden stellten fest, dass das Myzel nach einem Heilungsprozess von drei, fünf oder zehn Tagen doppelt so stark war wie vor der Heilung. Das Myzel generiert neue Biomasse innerhalb beziehungsweise auf der alten Biomasse, wodurch es dicker und dichter wird. Außerdem war das geheilte Myzel genauso stark wie das unbeschädigte und konnten den gleichen Belastungen standhalten; allerdings war es weniger dehnbar. Grund dafür ist wahrscheinlich die unterschiedliche Struktur der neuen Biomasse im Vergleich zur alten Biomasse. Die Forschenden fanden auch heraus, dass das Myzel, das fünf Tage lang geheilt war, die beste Qualität aufwies: Es brach an der geschädigten Stelle nicht und bildete keine unerwünschten Wucherungen aus, im Gegensatz zu drei oder zehn Tagen Regeneration. Außerdem war das geheilte Material wasserresistenter, da sich das neue Myzel auf dem alten bildete.

Heilung nach dem Durchstechen des Materials. Quelle: Originalartikel

Werden wir dieses Material bald auf dem Markt sehen?

Weitere Studien sind notwendig, bevor das neuartige Material in nutzbare Produkte integriert werden kann. So ist beispielsweise nicht geklärt, ob das Material härteren Bedingungen wie Chemikalien oder wiederholten Waschzyklen standhalten kann, was bei der Verwendung als Lederersatz durchaus vorkommen könnte. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Es ist noch nicht erforscht, ob sich das Myzel mehrmals regenerieren kann. 

Im Gegensatz zu anderen lebenden Materialien ist das neue Pilzleder nicht auf Gentechnik oder Ko-Kultivierung angewiesen, sondern auf physikalische Manipulation und Einflüsse durch Umwelt und Umgebung. Dies macht es zu einem einzigartigen und vielseitigen Material für nachhaltige und widerstandsfähige Produkte wie Möbel, Autositze, und Kleidung. Durch Einbindung von komplexen Verhaltensweisen wie Umgebungserfassung, morphologischen Veränderungen, oder zellulärer Umstrukturierung könnte eine neue Generation lebender Materialien entstehen, die sogar noch lebendiger und dynamischer sind.


Link to the original post: Elise Elsacker, Meng Zhang, Martyn Dade-Robertson. Fungal Engineered Living Materials: The Viability of Pure Mycelium Materials with Self-Healing Functionalities. Advanced Functional Materials, April 2023. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/adfm.202301875

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Übersetzt von: Ann-Kathrin Mehnert